Dr. Armin Brunner, 03.03.2012
„ON THE SUNNY SIDE OF THE STREET“ EIN MUSIKER UND SEINE ZEIT: GEORGE GRUNTZ ZUM 80sten
Wer genötigt würde, die atemberaubende Biographie des George Gruntz auf das Format eines Programm-zettels oder Buchdeckels zu reduzieren, bekäme es mit der Angst zu tun, oder zumindest mit dem schlechten Gewissen. Natürlich kann man eine Compact-Version von Georges Lebenslauf herstellen und die klingt dann „GEORGE GRUNTZ – er hat die Meister des Barock verjazzt, Beduinen zum Swingen gebracht, mit Rolf Liebermann die Jazz-Oper „Cosmopolitan Greetings“ geschrieben; war viele Jahre musikalischer Direktor des Zürcher Schauspielhauses, leitete während 23 Jahren die Geschicke der Berliner Jazztage, bereiste mit seiner grandiosen ‚Concert Jazz Band’ die Kontinente. Damit ist zwar einiges gesagt, aber auch unendlich viel weggelassen. Ich betone: sehr, sehr viel weggelassen! Wer mit Verehrung und Hingabe dem Musiker George Gruntz huldigen möchte, spürt sehr bald, dass er von der Materialfülle buchstäblich erdrückt wird, einer Fülle, die ihn verstummen lässt. Ich greife also hinein in den mächtigen Strom des Gewesenen – ich greife heraus – ich ergreife, was ich mit zwei Händen grad so zu erhaschen vermag. Bei genauerem Hinsehen gewinnt man unweigerlich den Eindruck, dass der Lebenslauf von George Gruntz nur mit einer Perlenkette vergleichbar ist, nur mit einer schillernde Perlenkette, deren einzelne Juwelen so stark funkeln und strahlen, dass man zur Sonnenbrille greift. Daher soll diese Mini-Hommage den Charakter einer Improvisation tragen – es wird nicht nach Noten gespielt, es wird improvisiert, mit ein paar Standards im Rucksack ...
Man muss sich das Musikleben der Nachkriegszeit vergegenwärtigen, damals, als der 25jährige George seine musikalischen Fühler ausstreckte. Wer in dieser Nachkriegszeit ins musikalische Erwachsenalter eintrat, dem wurde bald klar, dass der Jazz in den Sälen und Kathedralen der anspruchsvollen, und dh der sogenannten abendländischen Kunstmusik nichts zu suchen hatte. Praktiziert wurde eine strikte musikalische Apartheid-Politik. Jazz war dort, wo man sich mit dem Innenleben des „Wohltemperierten Klaviers“ oder der Sonate Eine eingestandene Zuneigung zu Swing und Bebop war mit gesellschaftlicher Ächtung gekoppelt. Jazz zu spielen oder zu bewundern, war ein Risiko für alle, die ihre Karriere auf Schumann und Chopin aufzubauen versuchten. Unvergessen die Konsternation und Sprachlosigkeit in Konservatoriumskreisen, als Rolf Liebermann 1956 mit seinem Jazz-Concerto auf den Plan trat und Furore machte. Zwar wusste man, dass auch Debussy, Strawinsky, Ravel u.a. ab und zu kleine Ausflüge auf das Gelände der Jazzmusik unternahmen, aber das wurde nie so ganz ernst genommen, wie man auch Filmmusiken von Hindemith oder Honegger immer zuhinterst in den Biographien versteckt hielt. Doch es war auf die Dauer nicht zu übersehen und schon gar nicht zu überhören: Das war die Zeit, als George seine ersten Finger- und Gelenkübungen an seinem Jazzklavier absolvierte. Hätte er die Hörer-Typologie des Philosophen Adorno gekannt und an sie geglaubt, dann hätte er erfahren, dass sein künftiges Publikum aus „Ressentiment-Hörern“ bestehen wird ... Unter den sieben Hörer-Kategorien, die Adorno eingerichtet hat, rangiert der Jazz-Hörer gerademal an 5. Stelle und dort in einer Sonderstellung, eben als „Ressentiment-Hörer“. Dann folgen nur noch der Unterhaltungshörer, für den die Musikindustrie tätig ist und am Schluss der „Unmusikalische Hörer“ als Ergebnis eines Erziehungsdefektes. Und wir andern, die wir uns an Schuberts Forellenquintett nicht satt hören konnten, was blieb uns? „Wer sich heute noch an den schönen Stellen eines Schubertquartetts oder gar an der provokant gesunden Kost eines Händelschen Concerto grosso labt, rangiert als vermeintlicher Bewahrer der Kultur unter den Schmetterlingssammlern.“ Mein Gott, wer möchte da nicht Schmetterlingssammler sein! Warum ich das erwähne? Weil Georg weiss, auf was er sich einlässt, als er sich endgültig entschliesst, Musiker und zwar Jazzmusiker zu werden. Zitat George:
Es fängt schon mal gut an – Talent und Glück reichen sich fürs erste die Hände. Die Baslerin Antoinette Vischer (Vischer mit V geschrieben), eine vermögende Pianistin und Cembalistin, war des Zupfens und Zirpens barocker Suiten überdrüssig geworden und bestellte eine grosse Zahl frischer Cembalomusik direkt beim Komponisten. Als Vollmitglied des „Basler Daigs“ hat Antoinette Vischer damit einen eigenen ganz persönlichen musikalischen „Daig“ geknetet, indem sie die zu jener Zeit – also in den 60er-Jahren – bekanntesten Namen der sogenannten Avantgarde um sich scharte ... Kagel, Haubenstock, Ligeti, John Cage, Earl Brown, Henze, Isang Yun, aber auch Musiker, die ausserhalb dieses Zirkels standen, wie Boris Blacher, Gottfried von Einem, Peter Mieg, Rolf Liebermann. Sie alle verfassten avantgardistische Cembalomusik. Und auch George Gruntz erhielt einen Auftrag. In diesem hoch-elitären Kreis aufgenommen zu sein, kam einem musikalischen Ritterschlag gleich. George steuerte „Vier Jazz Etüden über Motive von Hans Werner Henze“ bei. Für den Dreissigjährigen war das Lob des schon weltberühmten Henze geradezu lebenserhaltend: „Was ich von Gruntz höre“ sagt Henze, „ sind die schönsten und intelligentesten Improvisationen, die ich je von einem Jazzmusiker gehört habe.“ Ermutigendes und Aufmunterndes auch von Freundesseite: Lieber George
IMPROVISATION 3: Szenenwechsel – wir befinden uns auf dem Areal der EXPO ’64 in Lausanne. Zwei Lärm-Monster sorgen bei den Ausstellungsbesuchern für erhöhte Aufmerksamkeit: Zum einen klappert und lottert Jean Tinguely’s „Heureka“ im Halbstundentakt lautstark und autistisch vor sich hin, ein monumentales Räderwerk, dessen Räder unentwegt synchron drehen, aber nichts antreiben. Zum andern ratterte und rasselte im Sektor „Les Echanges“ nicht nur eine Einzelmaschine, sondern deren 156, durchwegs Geräte aus dem Arsenal der damaligen Büro-Ausrüstungen, angereichert durch schrille Bahnsignale und Autohupen. Eine solche Komposition hat keine Aussichten auf ein Überleben. Diesem Klang-Ungeheuer musste
1932 bis 2012 - 80 Jahre – das sind auch die 80 prallgefüllten, ereignisreichen Jahre des George Gruntz. Aber: Kann man verflossene Zeit überhaupt spüren oder gar hören? Man kann: zum Beispiel mit Hilfe von Wort und Musik ... Wort und Musik sind die geheime Nabelschnur der Sinne zu aller Zeit und zu allen Zeiten - auch zum Jahr 1932, als George zur Welt kommt, als Ravel sein Klavierkonzert für die linke Hand schreibt, George Gershwin mit der Komposition seiner Oper Porgy and Bess“ beginnt ... Familien- Musik- Theater- und Weltchroniken sind Protokolle der wirkenden Zeit ... Wenn wir den Zeitläufen nachgehen und den Lebensspuren von George Gruntz, stossen wir auf eine immense Fülle klangvoller Namen, die wie Leuchttürme im breiten Strombett der Erinnerung verankert sind und uns Fernes, längst Entfallenes in Sekundenschnelle vor Augen führen ... Es sind die Namen von Musikern, Komponisten, Kollegen, Kritikern, Intendanten, Managern, von Clubs und Gruppen und die Erinnerungen an Kräche und Skandale. Hitlers Machtergreifung zur Zeit, als George in der Wiege liegt, Im Lebensbuch von George findet sich alles und alles gleich mehrfach, was zu einer glanzvollen und einzigartigen Musiker-Laufbahn gehört: Sein Personaldossier gleicht einem Höhenweg-Spaziergang durch das Arsenal der Superlative.
Notierte Musik – für den klassischen Musiker ist die Notenschrift quasi die Heilige Schrift – die Auslegung erfolgt innerhalb des festgelegten Kanons. Auch nur geringe Abweichungen von der Schrift kann Unheil heraufbeschwören. Das ist anders in der Jazzmusik. Jazz ist die Hingabe an den Augenblick, an den Augenblick, der nicht verweilt, mag er noch so schön sein ... darum darf der Jazzmusiker, mehr als jeder andere Musiker, einiges riskieren, sogar viel riskieren, das Risiko ist sein Lebenselixier. Der Jazzer weiss, dass die herrlichsten Momente seines Musikmachens im Moment des Erklingens auch schon entwichen, unwiederbringliche Vergangenheit sind ... das mitlaufende Aufnahmegerät ändert daran nichts. Kommt dazu, dass selbst der Augenblick nicht fassbar ist, denn Musik wird erst greifbar – so paradox es klingt, wenn sie verklungen ist ... Wer sich auf den Jazz einlässt, muss sich Zeit nehmen und der verlorenen Zeit nicht nachtrauern .. eine besonders geglückte Wendung, ein Sprung ins Ungewisse, ein Glissando ohne Ausgang ... sie kommen so nie mehr zurück, denn zum „Zauber des Augenblicks“ gehört nicht allein nur der Spieler und dessen augenblickliche Verfassung, zu ihm gehört auch das mitgehende und mitfiebernde oder auch unbeteiligte Auditorium .. das auf den agierenden Musiker einwirkt. Aber was kettet den Musiker an sein Publikum? Doch lassen wir das – so hört niemand Musik und wenn, dann könnte man verrückt werden. Komposition und Improvisation – als Gegensatz-Paar ist es für George Gruntz genau so wenig wichtig wie für Charlie Parker oder Georg Friedrich Händel ... in seinem musikalischen Weltbild haben akademische Methoden und Theorien keinen Platz, starre Regeln und Prinzipien schon gar nicht, dafür umso mehr die geheimnisvollen Ordnungskräfte des immer wieder erprobten Zufalls ...
Wer in der Überfülle von Texten rund um das Wirken von George Gruntz herumstochert und herumwühlt, kommt aus dem Staunen nicht heraus – wir wissen es. Nicht allen gelingt das so überzeugend wie dem einstmaligen Chefredaktor der „Basler Zeitung“: „George Gruntz lebt aus Überzeugung „on the sunny side of the street“ und freut sich Da gibt es nichts mehr hinzuzufügen. Ich danke dir, lieber George – ich danke Ihnen, verehrtes Publikum.
|